Die Wunderhirsche des Hohen Schneebergs

Von J.A.Hegenbart

Im Wildgatter Schneeberg bei Bodenbach hatte der ehemalige Leiter der Centra-Werke, Generaldirektor Vogt in Wien, in den Dreißigerjahren hochinteressante Wildgehegeversuche durchgeführt, die sich vor allem die Aufwärtsentwicklung des heimischen Rotwildes zum Ziele gesetzt hatten.

Dieses Experiment, das mit der ganzen Opferwilligkeit eines Forschers und der restlosen Hingabe eines passionierten Jägers und Hegers durch 10 Jahre durchgetragen wurde, ist nicht nur geglückt, sondern hat auch überraschende erbbiologische Ergebnisse gezeigt. Vogt wollte feststellen, ob in den Hirschen noch die alten Erbanlagen stecken, wie vor Jahrhunderten und ob durch eine wohlbedachte Kreuzung und eine entsprechende Ernährung die Möglichkeit erschlossen wird, das Rotwild wieder auf seinen verlorengegangenen Stand hinaufzuzüchten. Er hat nicht nur diese seine Wünsche vollkommen erfüllt gesehen, sondern wie kaum ein anderer Heger vor ihm, einen tiefen Blick in die Lebensgeheimnisse seiner Pfleglinge getan und dabei ganz allgemein die Vererbungslehre durch schätzenswerte Beiträge bereichert.

Im Gatter Schneeberg wurden seit 1928 durchschnittlich 60 bis 80 Hirsche gehalten, durchweg Kreuzungsergebnisse schlesischer, ungarischer und einheimischer Hirsche. Diesem Wilde ist, da die gehaltlose Äsung unserer Kulturwälder nicht im Stande ist, Hirsche mit starkem Geweih hervorzubringen, eine mineralstoffreiche Nahrung zugeführt worden, die in Sesam-Kuchen, in hohen Hundertsätzen in gewachsenem Zustande enthalten sind. Der Kuchen (ein Abfallprodukt bei der Herstellung des für Speisezwecke gebrauchten Sesam-Öles aus den Sesamen), der 2,76 Prozent Kalk, 2,30 Prozent Phosphorsäure, 36 Prozent Eiweiß und einen hohen Prozentsatz des Vitamins D enthält, bildete die zusätzliche Nahrung. Bald zeigte es sich, dass den Tieren diese Nahrung außerordentlich gut bekam. Die Hirsche nahmen zu an Körpergewicht, ihr Kopfschmuck stieg hoch über das Haupt und verästelte sich zu vielen Enden und herrlichen Kronen.

Erst vierjährige Hirsche zeigen schon 24 Enden, ein siebenjähriger wies 34 Enden auf und alle trugen ihre starken, bis zu 12 kg schweren, weitgespannten Geweihe, ungemein leicht und graziös durch die Baumstämme. Die Schneeberg-Hirsche erhielten durch die Nahrungszusätze nicht nur stärkere und härtere Knochen, auch ihre Zahnsubstanz war härter und dadurch widerstandsfähiger gegen die Einwirkungen der Abnützungskräfte geworden. Die Folge dieser geringen Abnützung des Gebisses bedingte eine längere Lebensdauer desselben, wodurch auch der Höhepunkt der Entwicklung der Hirsche um zwei Jahre hinausgeschoben wurde. Wenn der Hirsch im Allgemeinen durchschnittlich mit 10 bis 12 Jahren die Höchstgrenze seiner Entwicklung erreicht hat, dann hat der von Vogt aufgezogene Hirsch diesen Scheitelpunkt erst mit 12 bis 15 Jahren erreicht.

Die Zuchterfolge machten aber nicht hinter dem Gatter halt. In der freien Wildbahn des Schneebergs wurden Hirsche und Rehe ebenfalls mit Sesam-Kuchen versorgt. Auch hier war das Ergebnis eine wesentliche Verbesserung der Geweih- und Körperstärke, dreijährige Tiere erreichten bereits 14-16 Enden, die vordem erst sechsjährige Tiere erzielten. Bei der Gehörnentwicklung des Rehs spielt allerdings die Veranlagung und nicht die mineralstoffreiche Ernährung die ausschlaggebende Rolle.

Der Besitzer des Gatters, der sich auch als Jagdschriftsteller, namentlich aber durch sein Buch „Neue Wege der Hege“ einen Ruf geschaffen hat, ergänzte die voranstehenden Darstellungen durch eine Bilanz seiner Erfahrungen, der wir u.a. nachfolgende, auch für den Laien sehr interessante Feststellungen entnehmen.

Die volle Auswirkung der Beifütterung des erwähnten Ölkuchens tritt erst dann ein, wenn auch das beschlagene (tragende) Tier in der Zeit vom Februar bis Juli solche vorgelegt erhält. Das Knochengerüst des Embryo muss bereits unter dem Einfluss der kalk- und phosphorsäure-reichen Nahrung des Tieres gebildet werden und die Entwicklung des Kalbes in den ersten Monaten der Säugezeit unter der Auswirkung der kalk-phosphorsäure und eiweißreichen Tiermilch vorsichgehen. Es ist erwiesen, dass Versäumnisse in der Hege des Kalbes nie mehr nachgeholt werden können und dass nur gut ernährte und zeitgerecht gesetzte Kälber einen gesunden und starken Rotwildbestand verbürgen.

Die außergewöhnliche Leistung in 120 Tagen eine Geweihmasse von etwa 10 kg zu erzeugen, kann nur ein starker und gesunder Hirsch zustande bringen. Das Körpergewicht der Hirsche im Gatter Schneeberg war von 170 bis 200 kg auf 300 bis 330 kg, das Körpergewicht der weiblichen Tiere von 100 bis 120 kg auf 150 bis 180 kg gestiegen. Die Gewichtssteigerungen waren teils der zweckentsprechenden Ergänzung der natürlichen Äsung, teils der im Gatter vorgenommenen Blutmischung zuzuschreiben. Die Abwurfstangengewichte der besten vierjährigen Hirsche haben eine Steigerung von 3,50 kg im Jahre 1929 auf 9 kg im Jahre 1937 erfahren.

Die Beobachtungen im Gatter Schneeberg haben weiter ergeben, dass das Muttertier für die Geweihveranlagung eines Rotwildbestandes mindestens von der gleichen Bedeutung ist wie der Hirsch. Es ist wiederholt beobachtet worden, dass die Söhne von bekannten Tieren in aufeinander folgenden Jahren die gleiche Geweihbildung zeigten, obwohl jedes Jahr ein anderer Hirsch, Platzhirsch (d.h. der Vater) war. Die im Gatter Schneeberg seinerzeit ausgesetzten schlesischen Tiere haben die Endenfreudigkeit ihres Stammes auch bei Beschlag durch starke, aber endenarme ungarische Hirsche ihren männlichen Nachkommen vererbt. Bei den ungarischen und den einheimischen Tieren ist die endenärmere Veranlagung ihres Stammes, auch bei Beschlag durch vielendige schlesische Hirsche auf ihre männlichen Nachkommen übergegangen. Diese Beobachtung berechtigte zu der Annahme, dass viele (weibliche) Tiere ihre Geweihveranlagung durchschlagender vererben, als die Hirsche, die ihre Geweihveranlagung zumeist nicht über diese an deren männliche Nachkommen vererben.