Die Steinkapelle in Raiza
Zu jeder richtigen Ortschaft gehört ein Gasthaus und eine Kirche. Das eine zur Stärkung des Körpers, das andere zur Erquickung der Seele. Nicht anders war es auch in Raizabei Tyssa. Die Schänke stand nur wenige Meter von der Grenze entfernt und hatte die Hausnummer 1. Gemeinsam mit der Mühle gehörte sie zu den ältesten Gebäuden im Dorf. Wir finden sie schon um 1600 in Oeders Karte eingetragen.1 In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts stand neben dem eigentlichen geräumigen Gebäude der Schänke 2noch eine Scheune, Sommerveranda und auf der anderen Wegseite eine Schmiede. Unterhalb der Schänke war ein gepflegter Gemüse- und Obstgarten mit feinen Äpfeln.
Eine Kirche gab es in Raiza nicht – das Dorf war nach Tyssa eingepfarrt – wohl aber eine kleine Steinkapelle, die sich gar nicht weit von der Schänke befand. Auch die Kapelle ist alten Ursprungs. Sie ( oder ihre Vorgängerin ) hatte schon ihren Platz auf historischen Landkarten des 18. Jahrhunderts. Die Entstehung dieser Karten, oder besser gesagt Pläne, verdanken wir dem mehr als 300 Jahre andauernden Streit um den Grenzverlauf zu Sachsen in Richtung Eiland. Im Jahre 1797 wurde er durch einen Vergleich beendet.3 Die damals festgelegte Grenze musste auch vermessen werden. Bei dieser Gelegenheit wurden zwei Pläne angefertigt ( 1797 und 1799 ), auf denen unsere Kapelle eingetragen und mit vier Bäumen umgeben ist.4 Bis 1945 nahm sich der Ausstattung und Pflege der Kapelle Familie Paul an, welche oberhalb der Kapelle wohnte.
Nach dem zweiten Weltkrieg wurde die Raizaer Bevölkerung aus ihrer Heimat vetrieben. Gleich 1945 brannte die Scheune ab und bald fielen dem Vernichtungswahn auch die Schänke und die anderen grenznahen Häuser von Raiza zum Opfer. Die Felder und Wiesen verkamen, die Obstgärten verwilderten. Nur zwei alte Lindenbäume, die vor der Schänke standen, der Veranda Schatten spendeten und unter welchen das Vogelschießen stattfand, blieben unversehrt. Über Jahre wuchsen sie zu Riesen heran und 1998 wurden sie unter Naturschutz gestellt. 5
Nicht alle Bauten in diesem einsamen Winkel wurden aber vernichtet. Wie im Märchen von den sieben Geißlein blieb ein einziges verschont – die alte Steinkapelle. Sie überlebte in einem trostlosen Zustand, aber sie war noch da. Die verglaste Kapellennische wurde um das Marienbild beraubt und auch die Vergitterung verschwand. Vom Holzdach war keine Spur mehr zu sehen. Am Kapellengiebel wucherten statt dessen Sträucher und Brennnesseln. Vor der ausgeraubten Ruine entstand nach dem letzten Krieg ein heute noch erkennbarer Ackerstreifen und ein Stacheldrahtzaun, womit der Tschechoslowakische Staat eingezäunt wurde. Nach Auflösung dieser Sperrzone um 1967 verlor die Umgebung der Kapelle ihr militärisches Ambiente. Die Grenzwachen mit Maschinengewehren wurden durch Rinder ersetzt, für welche von den Landwirten vor der barocken Kapelle eine Tränke angebracht wurde. Dann verschwanden auch die Kühe und die Kapelle verwaiste ….
Damit unsere Geschichte auch ein gutes Ende nimmt, fingen das Gemeindeamt in Tyssa gemeinsam mit der Verwaltung des Landschaftsschutzgebietes in Tetschen an, die Kapelle im Jahre 2001 renovieren zu lassen. 6 Als einziger Zeuge wird sie in diesem Grenzwinkel vielleicht noch Jahrhunderte bestehen bleiben. Zum Trotz allen Unheils der Vergangenheit und als eine Botschaft für die Zukunft.