Die Sudetenkrise 1938 *

Im Herbst 1938 lag Schwermut auf der Bevölkerung.  Die Angst vor einem bevorstehenden Krieg, der uns unvorstellbar erschien, wog schwerer als ein Alptraum.  Im Rundfunk verfolgten wir die Verhandlungen Hitlers mit Premierminister Chamberlain, Premierminister Daladier und dem Duce Mussolini über das Sudetenland.  Die Zeit wurde immer unsicherer und kritischer.  Im Rundfunk verfolgte ich die Ereignisse in Deutschland.  Anfang September fand der jährliche Parteitag der NSDAP in Nürnberg statt.  Am 12. September 1938 hielt Hitler dort jene denkwürdige Rede, in der er die Sudetendeutschen seines Schutzes versicherte.  Rudl und ich hörten dies im Radio am späten Abend.  Die Rede veranlaßte viele Menschen, auf die Straße zu gehen und sich zu Kundgebungen zusammenzufinden.

In diesen denkwürdigen Septembertagen des Jahres 1938 erwartete ich mein zweites Kind.  Ich hoffte auf ein Mädchen.  Das freudige Ereignis war für den 18. September vorhergesagt.  Wegen der unruhigen politischen Verhältnisse und weil wir dicht an der deutsch-tschechischen Grenze wohnten, wollte ich das Kind nicht zu Hause zur Welt bringen.  Auch hatte ich keine Lust, ein zweites Mal nach Tetschen ins Sanatorium zu gehen.  Sicher gab es Gründe, mein zweites Kind in Deutschland das Licht der Welt erblicken zu lassen.  Doch befürchtete ich, daß im zu erwartenden Konflikt zwischen Deutschland und der Tschechoslowakei keiner meiner Angehörigen mich dort besuchen oder gar zurückholen würde können.  Außerdem lagen Lerchenfeld und Kleinkaudern, Wohnsitz von Schwester und Eltern, unweit von Aussig.  Nach Abwägung aller Vor- und Nachteile blieb die Wahl bei Aussig als Geburtsort meines zweiten Kindes.  Ich entschloß mich, im Wöchnerinnenheim in Aussig, das auch Privatpatienten aufnahm, zu entbinden.

Gegen Mittag des nächsten Tag brachte Rudl mich nach Aussig zum Entbinden.  „Ausgerechnet heute am dreizehnten“, sagte ich zur Schwiegermutter beim Abschied.  „Ein jeder Tag gehört unserem Herrgott, auch der dreizehnte“, antwortete sie gelassen.  Unsere Nichte Erna ging mit ihrem Sohn Erhardl spazieren und nahm Rudi mit, damit er uns nicht wegfahren sieht.  Er, der so liebend gerne Auto fuhr und stets mitfahren durfte, hätte kein Verständnis dafür aufbringen können, daß er diesmal zu Hause bleiben mußte.

Wegen der Sudetenkrise verließ ich das Haus mit sehr gemischten Gefühlen.  Viele Peterswalder verließen den Ort und flüchteten ins nahe gelegene Deutschland.  Wir dagegen fuhren in entgegengesetzter Richtung nach Aussig.  Rudl war enttäuscht, daß er sich nach meiner Aufnahme im Wöchnerinnenheim sofort wieder verabschieden mußte und nicht Zeuge der Geburt auch seines zweiten Kindes sein konnte.  Mit einem enttäuschten „Papa, wo ist denn die Mutti?“ empfing ihn der nun 4½ Jahren alte Rudi bei seiner Rückkehr in Peterswald.  Seiner Mutter Fernbleiben war ihm unbegreiflich.

Die Klinik in Aussig hatte 20 Betten, von denen bei meiner Ankunft nur eines belegt war.  Es schien, daß in jener unruhigen Zeit viele werdende Mütter die Entbindung im eigenen Hause der in einer Klinik vorzogen.  Um 15 Minuten nach Mitternacht am 14. September hörte ich die Hebamme sagen: „Ein Junge!“ „Ist denn alles in Ordnung?“ fragte ich sie.  „Warum soll es denn nicht sein?“ antwortete sie schroff.

Die Geburt meines zweiten Sohnes konnte mich die politisch gespannte Lage nicht vergessen lassen.  Ich sah die Angestellten des Wöchnerinnenheims im Schwesternzimmer beim Rundfunkapparat sitzen und Nachrichten und Meldungen neugierig zur Kenntnis nehmen.  Keiner wußte, was der folgende Tag bringen würde.  Nach der denkwürdigen Rede Hitlers in Nürnberg und den anschließenden Demonstrationen herrschte in der Stadt Aussig ein ziemliches Durcheinander. Meine Mutter fragte bei einem Besuch die zuständigen Schwestern, was im Ernstfall eines Krieges in der gegenwärtigen kritischen Lage in der Klinik zu erwarten sei.  Sie bekam zur Antwort, daß die Rotkreuzfahnen schon bereit lägen und das Gebäude damit als Krankenhaus kenntlich gemacht würde, was seinen Beschuß verhindern sollte.  Trotzdem sehnte ich mich nach Hause.  Ich verlangte, vor Ablauf der mindestens 9 Tage Klinikaufenthalt, der nach einer Entbindung üblich war, entlassen zu werden.  Dies mußte schriftlich bei Dr. Trinks

Während meines Aufenthaltes in der Klinik wurde auf dem Nachhauseweg Helmut Lang, ein Mitglied der SdP., in Schönpriesen erschossen.  Damit hatte auch das Sudetenland seinen Horst Wessel.  Eine später aufgestellte Gedenktafel würdigte das Ereignis.  Im Schuhgeschäft Batja wurden die großen Schaufensterscheiben eingeschlagen.  Eine Vielzahl Aussiger Geschäftsleute waren Juden.  Sie verließen fluchtartig die Stadt, um im Inneren der Tschechoslowakei eine sicherere Bleibe zu finden.

Seit dem frühen Morgen des 14. September, Rainers Geburtstag, versuchte Rudl, in der Klinik anzurufen.  Dies gelang ihm nicht, da das Telefonnetz wegen der unsicheren politischen Verhältnisse gestört war.  Daher kam der besorgte Vater persönlich, sich nach dem Stand der Dinge zu erkundigen.  Eigentlich war er nicht enttäuscht, einen zweiten Sohn an Stelle des von der Mutter gewünschten Töchterchens zu haben.  Endlich, am 21. September, es war ein Mittwoch, durfte der glückliche Vater mich und seinen neuen Sprößling abholen.  Das geschah nicht ohne Schwierigkeiten.  Denn bei Jungferndorf oberhalb Peterswalds hatte tschechisches Militär Barrikaden errichtet.  Damit war die Straße unpassierbar geworden.  Rudl mußte über Tyssa nach Aussig fahren.

Schon seit dem frühen Morgen dieses Tages wurden die Häuser mit Hakenkreuzfahnen geschmückt, die während des Tages immer zahlreicher wurden.  In Tyssa wurde unsere Heimfahrt durch einen Menschenauflauf unterbrochen.  Vorm Hotel an der Straße standen die im Orte Dienst tuenden tschechischen Gendarmen und Zöllner.  Wir sahen mit Staunen, daß sie von uniformierten Angehörigen der SdP. ohne Widerstand entwaffnet worden waren.  Zu Hause angekommen, fanden wir auch unser Haus mit einer Hakenkreuzfahne geschmückt.  Dafür sorgten drei unserer vom Nationaltaumel erfaßten Neffen.  Sie hatten, finanziell und moralisch von ihrer Großmama unterstützt, diese Fahne erworben.  Politisch wurde meine Schwiegermutter von der Jugend sehr mitgerissen.  Es schien, als ob alt und jung gleichermaßen fürs deutsche Nationalbewußtsein zu begeistern war.  Bei Anna geschah das zum Teil aus dem Glauben, daß es nach einem Zusammenschluß aller Deutschen keinen Krieg mehr geben könne.  Die über den Anschluß des Sudetenlandes an das Großdeutsche Reich geführten Verhandlungen der Großmächte mit Deutschland verzögerten den Einmarsch der deutschen Truppen ins Sudetenland.  Dadurch gewannen die Tschechen wieder die Oberhand.  Das führte zur Flucht vieler Peterswalder nach Deutschland.  Viele Häuser standen leer.  Auf den Bauernhöfen wohnten nur alte Leute, die das Vieh versorgten und das Haus hüteten.

Am 23. September wurde von der Prager Regierung die Mobilisierung angeordnet.  Gegen Mitternacht weckte mich Rudl, um mir diese Neuigkeit bekannt zu geben.  Er hatte solange am Radio gesessen und die abwechselnd in tschechisch und deutsch wiederholten Nachrichten verfolgt.  Kurz darauf wurde heftig an die Haustür geklopft.  Tschechische Soldaten verlangten die Herausgabe des Motorrades, das einem unserer Neffen gehörte.  Es war eine starke Maschine der Marke Böhmerland, die sofort beschlagnahmt und auch gleich mitgenommen wurde.  Einige Tage später entdeckte unser Neffe sein Motorrad durch Zufall beim Zollamt, als er mit seinem Fahrrad dort vorbeifuhr.  Er warf sein Fahrrad in den Graben, schwang sich auf sein Motorrad und fuhr mit größter Geschwindigkeit nach Antonstal zu seiner Verlobten.  Dort versteckte er seinen wertvollen Besitz bis zum Einmarsch der Deutschen.

Rudl und ich taten kein Auge mehr zu in jener Nacht und berieten unsere Zukunft in dem jetzt herrschenden Kriegszustand.  „Grenzland ist Streitland“, hatte Großmama oft gesagt.  Nach reichlichem Überlegen kamen wir zu dem Entschluß, daß ich mit den Kindern vorübergehend nach Kleinkaudern zu meinen Eltern ziehe.  Am frühen Morgen demontierten wir den Kinderwagen, verstauten ihn im Auto, packten die nötigen Sachen dazu und fuhren los in Richtung Kleinkaudern. Beim Blumentritt-Tischler machten wir Halt, um uns zu verabschieden.  Schwager Rudolf, in der Haustür stehend, schlug die Hände über dem Kopf zusammen und sagte nicht besonders freundlich: „Was fällt euch denn ein!  Jetzt wollt auch ihr noch fort!?“

Bei den Eltern in Kaudern herrschte auch große Aufregung vor, weil Schwager Emil und unser zukünftiger Schwager Adel, der Verlobte meiner jüngeren Schwester Ilse, fürs tschechische Militär mobilisiert werden sollten.  Beide waren schon dagewesen, um sich Rat zu holen.  Sie fielen unter den Mobilisierungsbefehl, welcher inzwischen überall angeschlagen war.  Demnach hatten sich die Wehrpflichtigen innerhalb von 6 Stunden nach Bekanntmachung auf den Stellplätzen einzufinden.  Vier Möglichkeiten – Einrücken, über die Grenze nach Deutschland flüchten, im Hause ein Versteck suchen oder Flucht in die Wälder – wurden in Erwägung gezogen.  Die Zukunft war sehr ungewiß.  Emil und Adel rückten schweren Herzens ein.  Adels Vater besuchte Kleinkaudern unmittelbar nach der Musterung seines Sohnes.  Er erzählte vom unbeschreiblichen Chaos in Aussig, besonders in der Bahnhofsgegend.  Rudl fuhr am gleichen Tage nach Peterswald zurück, hielt es dort aber ohne seine Familie nicht lange aus.  Von Unruhe befallen, holte er bereits am folgenden Vormittag mich und die Buben nach Peterswald zurück.  Es war ein herrlicher Herbsttag.  Die Sonne schien vom wolkenlosen Himmel, die Laubverfärbung war ein Bild der Natur, welches kein Maler hätte schöner gestalten können. Wir sehnten uns nach Frieden und verstanden nicht, warum Menschen zu böse sind, um friedlich nebeneinander zu existieren.

Am Montag, den 26. September, war große Musterung der Pferde und Fahrzeuge.  Dabei wurden wir unsere beiden Pferde los, was uns sehr leid tat, wogegen wir aber machtlos waren.  In jenen Tagen starb Schwager Rudolfs schwerkranke Mutter.  Ihre Beerdigung am 26. September konnte nicht stattfinden, weil wegen der Musterung der Pferde im ganzen Ort kein Pferdegespann, um den Leichenwagen zu ziehen, gefunden werden konnte.  Alle Gespannführer waren mit ihren Pferden an diesem Tage in Karbitz zur Musterung.  Deshalb mußte die gute Großmutter am Tage vor der Beerdigung auf den Friedhof gebracht werden, um von dort aus beerdigt zu werden.  Dies ist deswegen bemerkenswert, weil diese Frau jahrzehntelang, bis in ihr hohes Alter, für die Bespannung des Leichenwagens zuständig war.  Der Erlös für diese Arbeit war ihre Altersrente.  Als Tischler war ihr Sohn auch für die Herstellung der Särge und die Leichenbestattung in Peterswald und Umgebung verantwortlich.  In der Regel wurden die Verstorbenen nur von zu Hause aus beerdigt.  Die meisten starben auch zu Hause.  Alters- und Pflegeheime waren größtenteils unbekannt.

Für den Abend des 26.September war im Berliner Sportpalast eine große Rede Adolf Hitlers angekündigt.  Die tschechischen Behörden versuchten, den Sudetendeutschen diese Rede vorzuenthalten.  Eine Anordnung wurde erlassen, alle Rundfunkgeräte am Gemeindeamt abzuliefern.  Zusätzlich wurde zum Zeitpunkt der Rede der elektrische Strom abgeschaltet.  Deshalb erfuhren wir wenig über die Ausarbeitung eines Ultimatums an die Prager Regierung, das Sudetenland innerhalb weniger Tage an das Deutsche Reich abzutreten.  Trotz alledem sickerten Gerüchte durch über Verhandlungen in München durch.  Die große Hoffnung auf Frieden blieb.  Jedoch die Schikanen der Tschechen hielten an.  Die etwas voreilig gehißten Hakenkreuzfahnen wurden von tschechischen Soldaten eingesammelt, am Rathausplatz mit Benzin übergossen und verbrannt.  Auch die von der Großmama gestiftete Fahne wurde ein Opfer der Flammen.  Die in der tschechoslowakischen Armee dienenden Deutschen, unter ihnen zwei Schwager und drei Neffen, wurden ins Innere der Tschechoslowakei gebracht.  Die Grenze wurde ausschließlich von tschechischen Soldaten bewacht.

Die Deutschen, die sich in den Wäldern versteckt hielten, bekamen den Hunger zu spüren.  Das Kauderer Dienstmädchen Pepi, eine ehrliche und vertrauenswerte Person, stieß beim Kartoffelholen auf zwei sich in einer Schlehenhecke verbergende Männer.  Sie erschrak und versuchte zu fliehen.  Als sie aber deutsche Laute vernahm, besann sie sich eines besseren.  Sie kam mit ihnen ins Gespräch und erfuhr, daß beide seit Wochen auf der Flucht waren und sehr Hunger litten.  Zu Hause angekommen erzählte sie meinen Eltern von ihrem Erlebnis.  Ohne Zögern holte mein Vater die beiden in der folgenden Nacht auf seinen Hof und bereitete ihnen ein Versteck in der Scheune.  Denn die Nächte waren bereits recht kalt in den Wäldern, besonders für unterernährte Flüchtlinge.  Die Herren Bartok und Dvorak, so hießen die beiden, verbargen sich auf dem Heuboden und wurden gut verpflegt.  Das führte zu einer Freundschaft, die für lange Jahre anhielt, sogar den kommenden Weltkrieg und die Vertreibung überdauerte.  Das Ehepaar Bartok suchte und fand unsere Eltern nach der Ausweisung durch Heimatfreunde hier in Radis.  Danach besuchten sie sich öfter gegenseitig, denn die Bartoks waren nach der Zwangsvertreibung 1945 in der Nähe von Delitzsch bei Leipzig gelandet.  Soviel ich weiß, soll Herr Dvorak nicht aus dem Kriege zurückgekehrt sein.  Diese Hilfeleistung, welche sie damals von meinen Eltern geboten bekamen, hatten sie nie vergessen.  Es war ein großes Risiko, denn jeder wurde von anderen bespitzelt.  Es gab viele Judasse in jener Zeit, die belohnt wurden, wenn sie einen Deutschen verraten hatten.

So viel Glück wie die Herren Bartok und Dvorak hatten andere, die sich in schwierigeren Verstecken aufhalten mußten, nicht.  Nach dem Einmarsch der deutschen Truppen hörte man oft erzählen, in welchen unzumutbaren Aufenthalten sich wehrpflichtige deutsche Männer in der Zeit der tschechischen Mobilisierung bis zum Einmarsch der deutschen Truppen versteckt hielten.  Der Bäckermeister Firtich in Peterswald, zum Beispiel, hatte sich mit einer geeigneten Vorrichtung tagsüber im Brunnen auf seinem Hof versteckt.  Ein Tag konnte zur Ewigkeit werden in dieser Stellung.  Ein anderer Peterswalder ließ sich einmauern.  Viele Sudetendeutsche flüchteten bei Peterswald über die stark bewachte Grenze.  Jenseits der Grenze in Deutschland wurde das sudetendeutsche Freikorps gegründet.  Dieses bot den geflohenen Sudetendeutschen die Möglichkeit, an der Seite der deutschen Truppen zur Befreiung beizutragen.  Doch nach der Eingliederung Böhmens ins Reich wurde es bald wieder aufgelöst.  Die nationalsozialistische deutsche Regierung duldete keine Freischärler in den Reihen ihrer militärischen Organisationen.  Die Sudetendeutschen erwarteten den Einmarsch der deutschen Truppen mit Spannung.  Obzwar den Deutschen in der Tschechei in dieser Zeit kein Rundfunkgerät zur Verfügung stand, so sickerten doch Nachrichten über den bevorstehenden Einmarsch durch.

Einige Tage vor dem Einmarsch bereits verließen die tschechischen Gendarmen und Finanzer, wie im Münchener Abkommen verlangt, ohne Widerstand mit ihren Familienangehörigen Peterswald.  Die jüdischen Kaufleute und Großindustrielle verließen in Eile ihre Villen und flüchten mit ihren Angehörigen in das Innere der Tschechoslowakei.  Am 5. Oktober dankte der tschechische Staatspräsident Beneš ab und begab sich ins Ausland.  In Prag wurde eine neue Regierung gebildet.  Im sudetendeutschen Gebiet rüstete man zum würdigen Empfang der deutschen Truppen.  Mit Fahnen und Reisiggebinden wurden die Häuser geschmückt.  Die Bevölkerung wurde aufgefordert, am Vorabend des 8. Oktober die Fenster mit brennenden Kerzen zu schmücken.  Mit großer Herzlichkeit wurden die einmarschierenden deutschen Soldaten begrüßt.  Der Ruf „Wir danken unserem Führer“ hallte durch die Lande, und die Begeisterung schien keine Grenzen zu finden.  Mit dem Rest der Welt atmeten wir Sudetendeutschen auf, als das Sudetenland Anfang Oktober von reichsdeutschen Truppen ohne Krieg besetzt wurde. Für die Menschen schien der Friede gesichert zu sein.  Man glaubte an Hitlers Versprechungen, nach der Angliederung des Sudetenlandes an das Großdeutsche Reich keine weiteren Gebietsforderungen mehr zu stellen.

Auch die 71jährige Großmama atmete auf.  „Nun gibt es doch keinen Krieg mehr“, sagte sie und sah ihren Lebensabend in Peterswald gesichert.  Noch ahnte keiner Hitlers bald aufkommende neue Lösung „Volk ohne Raum“ und seinen Mißbrauch des Sudetenlandes als Mittel zum Zweck, noch mehr Soldaten zu finden für sein geplantes Vorhaben des großen Krieges.  Seit seiner Machtübernahme 1933 war Hitlers Politik die Forderung nach Selbstverwaltung der 3½ Millionen Deutschen innerhalb des tschechoslowakischen Staates.  Erst Anfang 1938 wurde zum ersten Mal die Abtrennung des Sudetenlandes von der Tschechoslowakei und Anschluß an das Altreich gefordert.  Bereits im Oktober desselben Jahres kam es zur Eingliederung des Gaues Sudetenland ins Deutsche Reich.  Konrad Henlein wurde zum Gauleiter ernannt.  Reichenberg wurde Gauhauptstadt.  Die NSDAP wurde offizielle und einzige Partei.  Rudolf Schittenhelm wurde zum Kreisleiter in Aussig ernannt und Obrigkeit auch für Peterswald, das dem Kreise Aussig eingegliedert wurde.  Bereits Anfang Oktober wurde die tschechische Krone zum Gegenwert von 12 Pfennigen in deutsche Währung umgewechselt.

Den aufregenden und ereignisreichen Wochen und Monaten des Anschlusses folgte eine für die Sudetendeutschen friedvolle und befriedigende Zeit.  In Peterswald gab es keine Grenze mehr, die Deutsche von Deutschen trennte.  Die Peterswalder konnten in Sachsen einkaufen, ebenso die Sachsen im Sudetenland und die Waren ohne Zollkontrolle nach Hause bringen.  Die in Sachsen gekauften Sachen waren billiger geworden, da keine Berufspascher mehr angeheuert und teuer bezahlt werden mußten.  Rudl und ich sind es gewohnt gewesen, durch häufige Autofahrten nach Dresden Einkäufe in Sachsen zu tätigen.  Für uns war dies immer sehr verlockend, und deshalb war es für uns eine feine Sache, daß es keine Grenze mehr gab.