Konnte man davon leben?

Jene Frage drängte sich auf, als wir zufällig eine Rechnung aus dem Jahre 1937 fanden.

Diese Rechnung lautete über 4141 Stunden á 1 Kc = 4.141,00 Kc, für geleistete Maurer- und Handlangerarbeiten beim Wiederaufbau des abgebrannten Wohn- und Wirtschaftsgebäudes meines Großvaters; ausgestellt vom Baumeister Karl Grohmann aus Peterswald.  Die Rechnung ist noch ordnungsgemäß mit der damals erforderlichen Stempelmarke versehen.

4141 Arbeitsstunden á 1 Kc, gleich für Maurer und Handlanger.  Dieser geringe Lohn, kann das möglich sein?

Im Jahre 1933 kostete 1 kg Brot 1,60 Kc,  Rindfleisch 10 bis 12 Kc/kg, Mehl 2,80 Kc/kg, Zucker 2,80 Kc/kg, 1 Heringe 0,55 Kc/Stück und ein Paar Knacker 50-60 Heller.  Es ist kaum anzunehmen, dass sich 4 Jahre später die Preise wesentlich geändert hatten.

Eine 40 Stunden Arbeitswoche gab es damals noch nicht, eher 10 Stunden Arbeitszeit pro Tag und dann gerade einmal 10 Kronen verdienen und damit noch die Familie ernähren, war das möglich?  Wie schlecht muss doch die Zeit damals  gewesen sein!?  Auch wenn im Dorf die meisten Familien in ihrem Häusel die Möglichkeit hatten, sich etwas Kleinvieh zu halten, einen kleinen Acker für ein paar Kartoffeln besaßen und damit wohl auch ein Schwein füttern konnten.  Trotzdem, reichte dieses karge Einkommen zum Leben?

In jener Zeit war ich noch ein Kind und kann mich kaum an das Geld erinnern.  Für unseren Vater musste ich manchmal für 1 Krone 10 „Zora“, das waren die billigsten Zigaretten, holen.  Gelegentlich gab es für einen Botengang 20 Heller, die ich aber postwendend in ein paar „Stollwerkln“ umsetzte.

Besser als an das Geld kann ich mich an den Brand bei den Großeltern erinnern.  Es war an einem Samstag, Anfang Juli.  Man hatte am Nachmittag die letzte Fuhre Heu eingebracht.  Großvater hatte sich schon schlafen gelegt, Onkel Otto war noch auf ein Glas Bier und zum Haare schneiden ins Dorf gegangen.  Die Großmutter mit Tante Rola waren noch in der Küche beschäftigt und hatten noch den Sonntagskuchen im Rohr, als die Nachbarstochter mit einem Schrei: „bei Euch brennt es“ ans Fenster klopfte.  Sie war gegen 22 Uhr auf dem Heimweg vonHinter-Tellnitz, hatte zuerst nur etwas Rauch vernommen, aber als sie bei der „Alten-Buche“ ankam, sah sie das Feuer aus der Scheuer schlagen.  Wie mag sie da die ca. 300 m gerannt sein-.

Die Brandursache ist nie geklärt worden.  Selbstentzündung vom Heu konnte auf Grund des guten Erntewetters ausgeschlossen werden.  Eventueller Funkenflug vom Schornstein auf das noch mit Stroh gedeckte Dach des Wirtschaftsgebäudes?  Auch möglich, dass es sich Landstreicher im Heu bequem gemacht hatten und unvorsichtig mit einer Zigarette umgegangen waren?  Brandstiftung? ausgeschlossen, es gab keine Feindschaft oder Neid.

Ich kam in jener Nacht zu mir, als mich Mama wach rüttelte und mir befahl aufzustehen und mich anzuziehen.  Die Vorsorge war nicht unbegründet, denn die Entfernung zur Brandstelle war nicht die Größte.  Nun merkte ich, dass draußen die Hölle los war.  Feuerschein erhellte den Nachthimmel, ich hörte laute Menschenstimmen, Tiere brüllen und vernahm ein unaufhörliches Hin und Her.  Jahre später, als ich Schillers Glocke las, da stand mir die Brand-Nacht so eindrucksvoll wieder vor Augen.  Nur, Nollendorf war kein mittelalterliches  Städtchen, die Häuser hier standen zum Glück in einiger Entfernung zueinander, aber der Wind, der jedes Feuer mit sich bringt und die vielen Strohdächer, die es noch gab, war Gefahr genug.  Dazu muss man sich auch noch vorstellen, dass es im Dorf weder  Telefon noch elektrisches Licht gab.  Der „Feuermelder“ war damals der „Streit-Franz“, er eilte, wenn ihm Feuer gemeldet wurde, mit dem Nebelhorn durch den Ort.  Die Feuerwehr besaß damals noch eine pferdebespannte Handpumpenspritze und 3 Teiche, aber kaum größer als eine Badewanne.  Wasserleitung gab es auch keine.  Unter diesen Umständen einen Brand zu löschen, war sowieso eine Utopie.  Aber dadurch, dass man den Gebirgs-Hof weit im Inneren des Landes sah, kamen von dort auch einige motorisierte Wehren.  Trotz dieser intensiven Unterstützung brannte alles bis auf die Grundmauern nieder.  Das mit Eternit bedachte Wohnhaus und die mit Stroh gedeckte Scheuer mit Stallung fielen dem Feuer zum Opfer.

Ein ganz großes Dankeschön galt da den Nachbarn und sonstigen Helfern, denn bis auf ein paar Schweine konnte alles Vieh gerettet werden.  Auch der Hausrat und einige der landwirtschaftlichen Geräte wurden nicht ein Raub der Flammen.

Im gleichen Herbst war dann alles wieder aufgebaut, aber es war nicht mehr das alte Haus mit seinen gemütlichen Winkeln.  Überall roch es nach frischem Mauerwerk und ich vermisste sehr die alte Bodenkammer, in die ich mich gerne verkroch.  Dort lagerten nämlich ganze Jahrgänge alter Zeitschriften und Kalender, vielfältiges Geschirr und Dinge, die der Urgroßvater, als er weite Fahrten als Hopfenhändler unternommen hatte, mitbrachte.  Dann fehlte auch das kleine vertraute Fenster, an dem die Großmutter ein weißes Tuch anbrachte, wenn sie die am Feld arbeitenden Leute rufen wollte, sei es dass eine Kuh zum kalben kam oder sonst etwas außergewöhnliches vorgefallen war.

Alles, es war einmal.  Das Wohnhaus steht heute noch und dient wohl als Ferien- und Wochenenddomizil.  Wo sind all die Nachbarn, die damals so eindrucksvoll und selbstlos geholfen haben?  Man war immer aufeinander angewiesen, eben eine gewachsene Gemeinschaft.  Dass wir alle so zerrissen und verstreut wurden, ist und bleibt ein Verbrechen.

Die Rechnung – 26. 12. 1937

Nollendorf Nr. 75 – Neubau – 1937