Die Tyssaer Wände
Es fällt mir nicht leicht, die Wände zu beschreiben. Zu lange liegt es zurück, dass ich das letzte Mal durch sie gegangen bin. Sie waren auch nicht häufig unser Spielplatz. Da war nur eine Höhle an der Südseite der Großen Wände, die wir Dorfjungen manchmal aufsuchten. Dann war ein großer, freier Platz inmitten der Kleinen Wände, wo wir gern spielten und wo mein Fußball seine „Seele“ aushauchte. Am Eingang zu den Wänden lag ein großer Felsbrocken, der leicht zu ersteigen war und auf dem wir deshalb weidlich herumrutschen. Als Jüngling von 15-16 Jahren stieg ich mit meiner schwindsüchtigen Klampfe und einigen Schulkameraden auf den „Langen Franz“, den höchsten Felsen der kleinen Wände (benannt nach dem Fürsten von Thun), und wir entsetzten die Dorfbewohner mit dem Gekrächz von Studentenliedern. Ein Gang durch die Wände, der immerhin 1-2 Stunden einnahm, fand nur statt, wenn wir Besuch hatten. Ich gehörte nicht zu den ortsansässigen Fremdenführern, das hat mein Vater nicht erlaubt. Vielmehr waren dies die ärmeren Schulbuben, die besonders an Sonntagen barfüßig bei der Kirche auf Fremde warteten und sich zur Führung durch die Wände anboten. Am Schluss der Führung erhielten sie einen Obolus. Ein Gang durch die Wände ohne Führer hätte aber auch wirklich nur den halben Reiz gehabt. Der Fremde hätte wohl die bizarren Felsformen bewundert, aber es wäre ihm sicher sehr vieles entgangen. Sicher wäre er beim „Echo“ vorbeigelaufen und hätte nichts vom Witz der Tyssaer gehört, noch hätte er jemals die vielen versteckten Felsgebilde entdecken können, denen die Phantasie der Eingeborenen charakteristische und treffende Namen gegeben hatte.
Geführt wurde nur durch die Großen Wände. Die Kleinen Wände wurden etwas vernachlässigt; die Felsformen waren nicht ganz so bizarr und außerdem hatte man sie bald durchschritten; auch hätte man bei deren Besuch wieder umkehren und in entgegen gesetzter Richtung gehen müssen. Immerhin war auch der „Lange Franz“ ein beliebtes Ziel. War man die Steinstufen, etwa auch die mit Haken in die Felsen eingelassene, zur Ebene der Stufen jeweils parallele eiserne Haltestange benutzend, auf den Felsen hinaufgestiegen, dann bot sich ein prächtiger Blick auf Tyssa, im Besonderen auf die Brache mit dem Sattelberg im Hintergrund. Da oben wuchsen noch Birkenbäumchen, doch war es nicht ungefährlich, von diesen Zweige abzubrechen, wie leicht konnte man in eine Felsspalte stürzen oder einen Sturz über die ganze Höhe des Felsens in die Tiefe tun und seine Knochen an den im Waldboden steckenden Felsblöcken zerbrechen. Nicht selten durcheilte die schlimme Kunde das Dorf: Es ist wieder einmal jemand abgestürzt. An 2 Fälle erinnere ich mich genau: Ein junges Mädchen stürzte tödlich vom Langen Franz ab, als es Birkenzweige abbrechen wollte. Ein junger Mann stürzte von der „Tanzplatte“ ab, als er von dieser auf einen anderen Felsen springen wollte, und schlug sich ein großes Loch in den Hinterkopf, was seinen Tod herbeiführte. Dieser junge Mann war dann im Leichenhaus aufgebahrt, und viele sahen sich wie ich das große Loch im Kopf zur schrecklichen Warnung an. Solches passierte immer an Sonntagen, wenn die Wände von Fremden wimmelten.
Ich muss einfügen, dass das Tyssa , das ich als bedeutendes Ausflugsziel in der Erinnerung habe, diese enorme Anziehungskraft nur bis zum Ausbruch des ersten Weltkrieges (1.August 1914) hatte. Mit diesem Datum endete die gute alte Zeit, und wenn die alte Donaumonarchie auch noch nicht untergegangen war, so war mit dem Kriegsausbruch doch schon aller Frohsinn und alle Sorglosigkeit dahin, gar nicht zu reden von den widerwärtigen Verhältnissen nach Kriegsende, als unsere schöne … ein Raub der Tschechen wurde. Vor 1914 gab es keine spürbare Grenze, die Sachsen kamen nach Böhmen und wir gingen nach Sachsen, ohne jeden Ausweis, die Deutsche Mark war so viel wert, wie die österreichische Krone, und beide Währungen wurden in jedem Land eine für die andere in Zahlung genommen. Ein großer Teil der Besucher unseres Ortes kam denn auch aus dem benachbarten Sachsen.
Wollten wir in die Wände gelangen, dann benutzten wir den schmalen Weg neben der Friedhofsmauer, den ich schon bei der Beschreibung des Gartens erwähnte. Die Touristen jedoch machten den Aufstieg von der Kirche. Von da ging recht steil ein breiter Weg zum Friedhof. Und doch mussten die armen Pferde den Leichenwagen dort hinaufziehen. Abzweigend von diesem Wege, erst nach Norden, dann nach Nordwesten, immer steigend, kam man an die „Lücke“ zwischen den Großen und den Kleinen Wänden. Links erhob sich ein allein stehender, faustförmiger Felsen mit je einem Loch links und rechts, so dass es aussah, als hätte der Felsen links und rechts ein Gesicht – der Januskopf. Rechts schritt man durch tiefen Sand zwischen 2 Felsen hindurch in die Wände hinein und kam auf einen freien Platz: Wenn es draußen noch so heiß war, hier war es immer angenehm kühl. (In einzelnen Felsspalten lag oft bis in den Juni hinein Schnee). Zunächst drehte man sich wieder dem Eingang zu und fand links von diesem zwischen 2 Felsen hoch oben auf einem 3. Felsen eine Krone eingemeißelt. Der ortskundige Führer würde nun seinen Arm da hinauf ausstrecken und uns belehren: Hier hat der Fürst von Schwarzenberg im Jahre soundsoviel den letzten Steinadler geschossen. Dann würde er uns auf der gegenüberliegenden Seite den Aufstieg auf die „Wand“ zeigen: Steinstufen, die in Absätzen zwischen den Felsen nach oben führen, wobei wir wieder eiserne Handgeländer zur Unterstützung unseres Aufstiegs finden würden. Oben angekommen könnten wir nun ununterbrochen auf den Felsen bis zum Ende der Wand gehen, wobei uns rechts die steile Tiefe, links aber Buschwerk begleiten würde. An Besonders gefährlichen Stellen würde uns ein Geländer vor dem Absturz bewahren. Wir wollen aber unserem Führer auf dem Weg durch die Wände folgen. Sind wir aus der ersten Felsgruppe herausgetreten, dann sehen wir schon von weitem den „Doktor“ und den „Bürgermeister“, der erste ein schlanker, der zweite ein rundlicher Felsen, beide mit einem kopfförmigen Aufsatz. Um zu dieser Felsgruppe zu gelangen biegen wir nun von unserem bisherigen Ostweg nach Norden um und nehmen dann hinter dem Doktor wieder östlichen Kurs (den wir dann auch beibehalten). Wir kommen zu einer Stelle, wo keine größeren Felsen stehen, haben aber von da Ausblick auf eine lückenhafte Felsreihe im Norden, die ausgezeichnet geeignet ist, den Schall zurückzuwerfen – wir befinden uns beim „Echo“. Unser Führer wird nun mit seinen Händen ein Megaphon bilden und gegen Norden einige klassische Sätze schreien, z.B. „Was essen die Studenten?“ – „Enten“ wird es zurückhallen. Auf die Frage „Was kocht die Frau Maier?“ halt es „Eier“ zurück. Nicht zu vergessen ist die Frage „Wie heißt der Bürgermeister von Wesel?“ Vom Echo erfahren wir es: Er heißt „Esel“. Dann nehmen uns die Wände wieder auf und wir kriechen oft durch Felsspalten, die so eng sind, dass wir mit der Schulter zuerst hindurch müssen. Dabei gehen wir manchmal sehr rasch, denn zwischen 2 Felsen eingeklemmte Felsbrocken drohen auf uns herunter zufallen oder es drohen gräuliche Felsgebilde wie der eingeklemmte Schneider oder der Ritter oder auch wollen wir herabtropfendem Wasser ausweichen. Schließlich sind wir den beklemmenden Felsen entronnen und steigen nun auf die Felsen an der Straße nach Schneeberg, denen das Schöne Felsgebilde der „Pilz“ aufgesetzt ist, ein richtiger Pilz mit schmalem Stiel und breitem Hut und also schwer zu erklettern. Unser Führer wir nun noch einen eiförmigen Felsen zeigen, der auf einem anderen Felsen liegt und mit den Worten: „Dies ist die steinerne Nuss und jetzt ist Schluss“ wird er sich von uns verabschieden.